27. August 2020
Der diskrete Charme des Nichtwissens.
Die schiere Größe dessen, was wir nicht wissen, kann schon überwältigend sein. Auszuhalten, dass wir kleine Menschen hier irgendwo im All rumhängen und keine Ahnung haben, wieso das bis jetzt immer irgendwie gut ging. Wieso wir nicht alle runterfallen. Wir können das Konzept von Unendlichkeit im Raum nicht wirklich begreifen, Endlichkeit und NICHTS vielleicht noch weniger. Das zu ertragen braucht Stärke und Demut, sagt meine kluge Frau. Und dann schneidet sie Paprika in Streifen.
Vertrauen, Demut und Stärke – wir brauchen so viel davon für dieses Menschsein. Wir leben in einem absurd kurzen Zeitraum zwischen Geburt und Tod und sollen akzeptieren, dass sich an diesem Setting nichts ändern lässt. Dass wir nicht wirklich wissen können, was das alles soll und was danach sein wird. Und dann kommt auch noch Corona daher. Nicht so verwunderlich, dass hier und da das Bedürfnis nach Eindeutigkeit aufkommt – auf der einen wie der anderen Seite des aktuellen Meinungsspektrums. Ich vermute allerdings, dass die Suche nach unverrückbaren Wahrheiten, das Festhalten an wasserfesten Antworten und dem einen Wissen viel eher in die soziale Distanz führen wird, als es ein respektvoller Abstand je tun könnte.
Warum mich also nicht auch hier der Unendlichkeit meiner Ignoranz hingeben und einfach mal auf Verdacht ein wenig vorsichtig sein, ganz pragmatisch und ohne zu wissen, ob ich das in drei Jahren auch noch so tun würde? Warum nicht die Grenzen dessen, was ich in einer hochkomplexen Situation begreifen kann, hinnehmen und mich bemühen, jeden Moment aufs Neue eine fragende, offen Haltung einzunehmen? Gesellschaft funktioniert in Widersprüchen. Mit Entscheidungen und Irrtümern, Kompromissen und Dissenz.
Klar gibt es Situationen, in denen es gut ist, Dinge zu wissen. Als Masseurin beziehe ich mich beispielsweise auf Jahrhunderte altes Erfahrungswissen über den menschlichen Körper – kann mich dann aber vor diesem Hintergrund vom einzelnen Menschen überraschen lassen. Zuhören. Raum lassen für das indische „vielleicht, vielleicht aber auch nicht“. Wenn so etwas im Kleinen geht, ist es auch in der Gemeinschaft möglich. Denn „nicht zuletzt“ (schreibt Margarete Stokowski), „hat einer der berühmtesten Philosophen der Welt, Sokrates, seinen kompletten Ruhm damit erlangt, dass er gesagt haben soll: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Fame durch Demut: Es ist möglich.“
Aber wer weiß – vielleicht ist ja auch alles ganz anders.
30. Juli 2020
le système, c´est moi.
Unser Leben ist politisch. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, findet es immer im Rahmen von Strukturen und Weltanschauungen statt, im Rahmen von Hierarchien und Interessen.
Unser Leben ist politisch, natürlich. Es bewegt sich und uns zum Beispiel innerhalb eines Wirtschaftssystems, das – per Geflecht aus Profit und Kollateralschaden, aus Privilegien und Marginalisierung – diese Welt in den humanistischen und ökologischen Ruin zu treiben droht. Innerhalb dessen die Positionierung der Einzelnen stark von den Auswirkungen verschiedener, Ungleichheit schaffender Ideologien abhängt. Global und direkt vor der Haustür – und entlang von Kategorien wie Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht, kolonialem Erbe, Religion, Gesundheit oder weiß der Kuckuck was.
Klingt verwickelt. Ist es auch.
Es braucht einen offenen Blick und genaues Betrachten, Analysen und Gegenentwürfe, um diese Zusammenhänge einigermassen zu entwirren. Es braucht aber auch die Bereitschaft zur Auseinandersetzung, das Wissen ums eigene Nichtwissen – und einen freundlichen, alle Grenzen überschreitenden Gemeinschaftsbegriff. Dann kann ich meine eigene, willkürlich privilegierte Position erkennen und mitdenken. Dann kann ich verstehen, dass ich – wie alle – den Rahmen mitgestalte, in dem Leben sich entfaltet. DANN kann ich: entscheiden, wie ich handeln möchte.
Und zwar immer und überall, aber bleiben wir mal beim Kapitalismus und seinem Einfluss auf alles und jede*n. Eine der wichtigsten Bewegungen meiner massagefreien Zeit war das Nachdenken über Selbstverständlichkeiten, über Erwartungen und das, was reicht. Was ist eine gutgehende Praxis/ umfassendem Angebot, was ist finanzielle Sicherheit, was Lebensqualität? Ich könnte auch fragen, womit ich zu einer lebendigen, wirklich solidarischen Gemeinschaft beitrage und womit nur das bestärke, was ich im Großen kritisiere. Wenn ich wirklich ausatme, kann ich Dinge reifen lassen, anstatt Wachstum zu forcieren. Kann ihr SO SEIN schätzen lernen und auf den richtigen Moment warten. Es gibt keine Planungssicherheit im Lebendigen, Teilen macht glücklich und Gewinnmaximierung krank. Diese Erkenntnisse haben revolutionäres Potential.
Denn politisches Handeln beginnt immer in der kleinen, konkreten Entscheidung. Und sieht hier und da und dort immer wieder anders aus. Ich selber beginne mit ein wenig Demut, dem Bestaunen meines völlig unverdienten Glücks und der Frage, wie ich es nutzen kann auf eine Art, die für alle gut ist.
Meine Selbstreflexion der Woche:
Kapitalismus ist mehr als Bill Gates – und Bill Gates ist der Mann, auf dessen Betriebssystem ich gerade schreibe, weil ich Ubuntu irgendwann überfordert aufgab. Geschah das Aufgeben auch aus derselben Phantasielosigkeit heraus, die mir ein Leben ohne PC kaum mehr vorstellbar erscheinen lässt? Lasst uns immer wieder dort fragen, wo´s wehtut. Denn da geht´s lang **
Experiment_vorschläge der Woche
Überleg Dir EINEN Bereich, in dem Du gern ein guter Einfluss im System wärst. Sei zum Beispiel eine Woche (oder einen Monat, ein Jahr oder für immer) nett zu allen, die Du triffst. Wechsel (zurück) zu Ubuntu oder lass das Auto stehen, wann immer es geht. Schalte Deine jeweiligen Endgeräte unfassbare 7 Tage lang nur fürs absolut Unumgängliche ein. Rede mit anderen darüber, wie Ihr arbeiten wollt, wie Ihr konsumieren wollt, wie Ihr Solidarität ausdrücken wollt. Oder, oder oder. Such Dir etwas, was für Dich persönlich eine echte Herausforderung, aber realistisch machbar ist.
Realitäts_abgleich der Woche
Schau gern mal I am not your negro (erhältlich zum Beispiel hier) und erleb danach, wie sich einer der unzähligen Hollywood- oder sonstigen Unterhaltungsfilme ohne BPoC in den Hauptrollen so anfühlt. Oder wie sich „die“ Realität in diesem Land anfühlt. Besonders erkenntnisversprechend, wenn Du weiß bist.
Tolle Musik kennenlernen der Woche:
Layla McCalla blickt singend ein wenig anders aufs Thema, und doch (oder vielleicht auch deswegen) will ich dieses Video so gern in die Welt schicken. Für die Idee, die (Karriere) Leiter einfach nicht hochzuklettern, weil, as you rise, the stakes get higher (…) and if I give everything, I won´t have much more to lose. Keine Illustration meiner Gedanken (wär ja irgendwie auch langweilig), sondern das Kennenlernen einer Musikerin. YAY.
25. Juni 2020
Ich freue mich, wenn es regnet…
…denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch. So sagte Karl Valentin.
Im Grunde ist dem nichts hinzuzufügen – ich tu es dennoch. Weil dieser sonnige Tag nicht vorüber gehen soll ohne ein Loblied auf die hilfreiche innere Haltung als solche. Weil Freude und Großzügigkeit, Gelassenheit und Humor das Leben strahlen lassen können. Ebenso wie Dankbarkeit, Freundlichkeit und Liebe; wie die Fähigkeit zu vergeben und alle anderen Geisteszustände, die das Herz weit und den Blick klar werden lassen. Die gute Nachricht ist: all diese Haltungen lassen sich lernen, üben, kultivieren. Und das ist wirklich eine SEHR, sehr gute Nachricht.
Denn in unserem Leben werden nicht alle Himmel blau sein. Nicht immer werden die Umstände sich so entwickeln, wie wir es uns wünschen und nicht immer werden wir morgens gesund und glücklich aufwachen. Was allerdings IMMER da sein wird ist unser Potential, uns dem Moment hinzugeben mit einem Arm voll Freude und Großzügigkeit, Gelassenheit und.. Ihr wisst schon. Dieses Potential ist ein Wunder, weil es uns Freiheit gibt. Wir können entscheiden, dem dunkelgrauen Tag im Februar, an dem wir erst Marmelade aufs Liebslingshemd kleckern und dann ein Kündigungsschreiben vom Chef bekommen, mit Humor zu begegnen. Wir können unsere Schwierigkeiten und Grenzen mit Großzügigkeit betrachten, mit liebevollem Blick und der Gelassenheit, die es braucht, um sie zu akzeptieren oder zu verwandeln. Sind wir krank, profitiert unser ganzes System von Freundlichkeit und Optimismus – und wer einmal die alles verwandelnde Kraft konsequenter und fröhlicher Dankbarkeit erlebt hat, will nicht mehr ohne sie sein.
Ja, ich sitze gerade im Halbschatten eines bildschönen alten Walnussbaums, die Luft ist warm, die Vögel singen friedlich vor sich hin und der Hund liegt zufrieden brummend an meiner Seite. Ja, es ist gerade SEHR leicht, glücklich zu sein. Aber natürlich erlebe ich, wie wir alle, auch ganz andere Zeiten und kenne den Unterschied zwischen einer herausfordernden Situation und meiner Wahrnehmung von ihr. Alles, was schwierig ist, wird durch eine gehörige Portion Ungeduld, Arroganz, Wut, Angst, Misstrauen oder Neid noch schwieriger werden. Alles, was schwierig ist, bietet aber immer auch eine wunderbare Gelegenheit, uns in der einen oder anderen seelischen Tugend zu üben.
Wenn wir uns dafür entscheiden, den Reichtum unserer positiven Potentiale zu kultivieren, machen wir uns eines der größten Geschenke unseres Lebens. Auf der Grundlage dieser Entscheidung können wir mit Achtsamkeit und Wohlwollen trainieren, so zu sein, wie wir am allerliebsten wären. Denn Gelassenheit ist kein Zauberwerk, Mut kein Privileg der anderen – und der Weg dorthin führt ganz einfach über das bewusste und kreative Herstellen der Zustände, die wir uns wünschen – immer und immer wieder. Unser Gehirn ist bis ins hohe Alter fähig zur Umstrukturierung, zur Integration dieser neuen Impulse und zur Veränderung dessen, was wir bisher bei uns für „normal“ gehalten haben. Lasst uns üben, froh zu sein und frei! Lasst uns in die Welt tragen, was wir uns nur in unseren kühnsten Träumen ausmalen können – und das über alle bisher gedachten Grenzen hinaus.
Übungsbeginn des Monats:
* Überleg Dir eine innere Haltung, die Du in den nächsten 7 (oder x) Tagen kultivieren möchtest.
* Nimm Dir Zeit zu überlegen, in welchen Bereichen Deines Lebens sich diese Qualität gut üben lässt.
* Such Dir Inspiration bei Freund*innen, in klugen Büchern oder bei Menschen, die sich damit auskennen.
* Beginn am besten gleich morgens, im Rahmen eines kleinen Rituals oder zB. als Teil Deiner Yogapraxis.
* Such eine geeignete Möglichkeit, Dich immer wieder an Dein Vorhaben zu erinnern
* Sei geduldig mit Dir, wohlwollend und vor allem: hab Spass dabei!
Musikvideo des Monats:
Clap along if you feel like that´s what you wanna do..
Buchvorschläge des Monats:
Warum regst Du Dich so auf? Wie die Gehirnstruktur unsere Emotionen bestimmt
von Richard Davidson und Sharon Begley
(im Original The emotional life of your brain. How it´s unique patterns affect the way
you think, feel and live – and how you can change them)
Die Yoga-Sutras im Alltag leben von Eckard Wolz-Gottwald.
Buddhazitat des Monats:
There is no way to happiness. Happiness is the way.
Bild von Ka Schmitz
28. Mai 2020
Sabotierte Ungeduld und das Summen der Alpakas.
Wenn Alpakas sich wirklich wohl und aufgehoben fühlen, summen sie. Es ist ein ganz kleines, tief bewegendes Geräusch, das zu Tränen rühren und alles andere nebensächlich erscheinen lassen kann. So nebensächlich wie die Eile, die ich neulich einmal zu haben glaubte und die glücklicherweise nicht allzu ernst genommen wurde. Hätte die kluge Frau an meiner Seite nicht das zügige von A nach B Kommen einfach unterbrochen – wir wären der kleinen Herde junger Alpakas am Rand der Straße nicht begegnet, die da miteinander in friedliche, absichtslos wirkende Kommunikation vertieft war. So fand das Leben wieder einmal im Anhalten statt und noch jetzt bleibt mir ein akustisches Bild innerer Ruhe und der Fülle, die in ihr blüht. Wunder beginnen offenbar häufig mit dem Mut zur Langsamkeit – die Wunder der Tierbegegnung ebenso wie die des täglichen Lebens.
Denn nehmen wir im Innern das Tempo heraus, entsteht eine Freiheit, die wundersam ist – unabhängig von dem, was im Aussen passiert. Wenn Ruhe ist im Zentrum unserer Bewegung, können wir auch in komplexen Situationen kreative Entscheidungen treffen und in Gelassenheit handeln. Wir können den Boden unter den Füssen behalten im Auge des Homeschooling_Sturms, in zenartiger Geisteshaltung die wildesten Herausforderungen menschlichen Miteinanders navigieren und auch, wenn die Musik immer schneller wird, aus einer entspannten Mitte heraus tanzen, jede neue, unerwartete Bewegung geniessend. Das Mysterium des geschmeidigen Lebens beginnt mit einer allgegenwärtigen Sorgfalt, die in Ruhe gegründet ist – und im Loslassen von Ungeduld. Im Loslassen auch von automatisierten, übereilten Mustern, die uns von der Unmittelbarkeit und Weite der eigenen Handlungsspielräume abhalten.
„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.
In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“
Da sind wir wieder bei Viktor Frankl angelangt, und gut ist das. Wenn es uns gelingt, den beschriebenen Raum für uns wohnlich zu machen, ihn als jederzeit zugänglich zu erleben, kann ein Frieden in unsere Tage einkehren, der immer schon als Potential angelegt ist. Mit diesem Frieden wird Klarheit möglich, das Hören auf die innere Stimme und das Gefühl für den richtigen Zeitpunkt – feine Künste, die es zu kultivieren lohnt. Mit deren Hilfe wir auch in einer Kultur, die spätestens seit MTV und dem Internet von hohem Tempo und Multitasking geprägt ist, das Leben unmittelbar erleben können. Wir können uns den Menschen, denen wir begegnen, wirklich zuwenden und uns die Zeit nehmen, sie immer wieder aufs Neue kennenzulernen. Wir können die Dinge, die wir tun, mit Aufmerksamkeit und Hingabe tun, anstatt sie nur noch schnell zu erledigen, bevor das ominöse, vielleicht nie eintretende Eigentliche beginnt. Ein Schritt, ein Atemzug, ein Besenstrich, wie Michael Ende schrieb.
Wir können entscheiden, wie wir leben wollen.
Achtsamkeitsübung der Woche:
Werde Dir der Ungeduld bewusst, wenn sie in Deinem Tag auftaucht.
Frage Dich, warum Du in Eile bist, wohin Dich Deine Eile führen soll.
Ungeduld raubt uns die Gegenwart. Wenn Du sie spürst, kehre zurück ins Hier und Jetzt, atme und öffne alle Sinne.
(vgl. Jan Chozen Bays, How to train a wild elephant)
Buchreihe der Woche:
The No. 1 Ladies´Detective Agency von Alexander McCall Smith (auf Englisch oder Deutsch).
Die Begegnung mit Mma Ramotswe & co bringt eine humorvolle Seelenruhe in meinen Tag,
die alles in Perspektive rücken kann. Botswanischer Humanismus ist inbegriffen.
(„… she was not the sort of detective – or person, indeed – who needed to get anywhere fast. In her experience, the places one set off for were usually still there no matter when one arrived; it would be different, naturally enough, if towns, villages, houses moved – then one might have a real reason to hurry – but they did not.“)
Film der Woche:
Kleines Wunder in Zeitlupe
Musikalische Auszeit der Woche:
FM Laeti: We go slow. Mach die Augen zu, lass Dich mitnehmen ins Langsame. Und ja: tanzen ausdrücklich erlaubt!
Langsame Initiativen der Woche:
Slow Food und CittaSlow – weil nachhaltig nicht ohne langsam geht.
21. Mai 2020
Ankommen – vom Wunder, mit dem eigenen Körper vertraut zu werden.
Es ist die 8. Woche dieser massagefreien Zeit, der Frühling lädt zum Sonnengruss und meine Gedanken spielen wieder mit dem Motiv der Verbundenheit. Tanzend, denn auf der körperlichen Ebene betrachtet, ist Verbundenheit für mich immer auch ein Tanz mit dem Leben – und das wiederum ist Yoga. Es sind der Rhythmus des Atems, die Melodie des Hier und Jetzt, die uns im yogischen Üben tragen, die uns helfen, den eigenen Körper als sicheren Ort kennenzulernen. Und weil Yoga in allem lebt, was Verbindung ist, führt der Weg zu diesem Ort nicht allein über die Yogamatte. Es sind manchmal Impulse von aussen (zum Beispiel auf der Massageliege), die uns ankommen lassen – und alles, was eine Verbindung von innerer und äusserer Haltung unterstützt. Alles, was uns in Bewegung bringt.
Welche Freiheit liegt darin!
Im kulturellen Kontext ist die Beschäftigung mit dem Körper ja leider oft gar nicht so frei – weder für Frauen noch für Männer. Zwischen dem Kult um den perfekten, ewig jungen Körper und der Distanziertheit der virtuellen Welt bleibt in unseren Gefielden wenig Raum für einen direkten Bezug. Wenn die menschliche Physis zum Objekt derselben materialistischen Logik wird, die auch den Umgang mit der Natur prägt, wird das permanente Streben nach Optimierung und die damit verbundene negative Kritik zum selbstverständlichen inneren Dialog gehören.
Aber nicht müssen!
Denn es steckt ein beglückend revolutionäres Potential, das uns allen jederzeit zugänglich ist, in der lebendigen Verbindung zum eigenen Körper. Wenn wir uns unserer ganzen Fülle liebevoll zuwenden, von innen heraus, spielerisch, wohlwollend und frei von Wertung, ist das nicht allein für uns selbst ein großes Geschenk. Es ist auch ein Stück Weltfrieden – durch Übung kultiviert, durch Verbundenheit in die Gemeinschaft getragen und insgesamt eine Menge Freude verbreitend.
Wenn sich im Morgenritual die Koordination von Atem und Bewegung auf einmal ganz mühelos anfühlt, wenn die Kraft, die in einem Asana liegt, selbstverständlich spürbar wird: dann ist der Frieden leicht. Wenn die Haltung sich nicht so bereitwillig erschliesst, wenn Yoga bedeutet, mit Grenzen umzugehen: dann ist Frieden der Weg. Dann passiert Bewegung in der freundlichen Geduld, in der Hingabe an das, was ist. Immer und überall. Alles, was den Körper involviert, birgt die Chance der bewussten Verbindung und der Freude daran. Probiert das unbedingt aus!
Und vergesst nicht: das Tanzen. Durchs Leben und aber auch ganz konkret auf dem Parkett, dem Teppich, der Wiese. Wenn das auch nach meinem letzten Tanztext noch nicht zu Eurem Repertoire gehören sollte, dann fangt jetzt damit an. Am Besten gleich, zu Eurer Lieblingsmusik. Wirklich. Schunkelt, weil es so schön klingt oder bewegt Euch, weil der Körper den Rhythmus aufnimmt (denn das tut er tatsächlich, schon bei unserer Geburt ist dieser Impuls voll ausgereift). Kopiert den Saturday Night Fever Move oder hopst auf und ab, bleibt lässig oder lasst raus, was sich ausdrücken will. Macht sanft, wenn Ihr nicht so fit seid. Tanzt, und wenn es Euch Spass macht, tanzt weiter. Denn auch wenn die nächste große Party wohl noch ein wenig auf sich warten lässt, können wir uns jeden Tag entscheiden, das Leben zu feiern – mit allem, was wir haben und allem, was wir sind.
Tanzvorschlag des Monats:
Überleg Dir etwas Tänzerisches – etwas Kleines, für Dich Machbares – was Du gerne lernen würdest und such Dir einen Weg, es zu tun. Vielleicht brauchst Du dafür ja nur Musik und einen kleinen Platz zum Ausprobieren. Vielleicht ist ein Spiegel hilfreich oder vielleicht auch gerade nicht. Vielleicht kann eine Freundin Dir Tips geben oder jemand auf youtube. Wenn Du ohnehin tanzt, such Dir gern etwas aus, was nicht Deinen gewohnten Bewegungsmustern entspricht. Gib Dir einen Monat und jeden Tag mindestens 5 Minuten Zeit zum freundlichen, wertfreien, wohlwollenden Üben. Freu Dich an dem Wunder, das Dein Körper ist. Freu Dich am Prozess, egal wie er aussieht – und bleib offen für alles, was passiert. Enjoy!
Video der Woche:
Dance monkey. They say oh my god I see the way you shine..
Filmempfehlung der Woche:
Rhythm is it (DVD). You can change your life in a dance class.
14. Mai 2020
Wer wenn nicht wir, wann wenn nicht jetzt –
ein entspanntes Plädoyer fürs gemeinsame (Nach-) Denken und Handeln
Wir leben gerade in einer Zeit, die reif ist für grundlegende Veränderung.
OK, wir leben IMMER in so einer Zeit. Leben ist Veränderung, jeder Atemzug neu und alles Große beginnt mit einem ersten Schritt. Dennoch – es liegt eine ganz eigene Dynamik im Ausnahmezustand. Er schreckt uns auf aus dem status quo, irritiert und ermöglicht die Frage: ist das wirklich das Leben, das ich leben möchte? Die Welt, in der ich leben, die ich weiter so gestalten möchte? Denn auch wenn die meisten von uns nicht Bill Gates sind oder die Königin von Deutschland: wir haben alle einen Handlungsspielraum. Gesellschaftliche Systeme basieren immer auch auf Vereinbarungen, auf dem täglich neuen Herstellen von Realität durch jede einzelne. Amazon hat nur so viel Reichweite, wie es Dinge verkauft, Donald Trump kann nur solange Präsident spielen, wie die Menschen ihm ihre Stimme geben – und die Abwrackprämie ist nur dann ein katastrophaler Schachzug, wenn sie genutzt wird.
Wir können mit dem Stützen von Schräglagen aufhören, wo und wann immer es uns auffällt. Wir können den Mut aufbringen, hinzusehen und das Veränderungswürdige vielleicht erstmal als solches benennen. Alles, was ist, kann hingenommen oder hinterfragt werden. Wobei wir wieder beim allerersten Blogbeitrag dieses Frühlings angekommen sind:
gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Diese Zeit, in der es auf einmal möglich war, „den Zug des Fortschritts mit einem großen Bremsenquietschen augenblicklich anzuhalten“, wie Bruno Latour es formuliert, hat ein Geheimnis gelüftet: der Weg, auf dem wir uns als Gesellschaft befinden, ist nicht unumkehrbar. Was für eine Kraft liegt in diesem Wissen! Und was für ein Zauber in der Vorstellung, diese Kraft zu nutzen! Vielleicht ist ja jetzt, inmitten der Zäsur, ein guter Moment für klares Hinsehen und gelassenes Reflektieren über das eigene Leben in dieser Welt. Dazu: erstmal ausatmen. Ausatmen und still werden. Und dann vielleicht: ins Gespräch und ins Gemeinsame gehen. Versuchsweise Keimzellen bilden, zu zweit, zu fünft, zu vielen. Wir können uns anschliessen, wo welche schon losgelaufen sind (zum Beispiel hier oder da oder da oder da oder da oder da) oder selbst etwas beginnen. Gemüse einkochen, eine Food-coop gründen oder eine kleine Meditationsgruppe für eine bessere Welt. Vielleicht fällt uns im Ausatmen ja auf, dass wir glücklich sind mit dem, wo wir sind, das ist ein großes Privileg. Oder dass die Welt ein besserer Platz wäre, wenn wir mehr zur Ruhe kämen in unseren Tagen. Vielleicht ist es passend, erstmal hinzusehen; zum Beispiel gemeinsam das degrowth Handbuch zu lesen, über Naomi Kleins Green New Deal zu diskutieren und zu kucken, was das mit uns macht. Wir könnten auch erstmal ins Gespräch kommen und sehen, ob aus dem Austausch Ideen entstehen können, Bündnisse, Wege. Wofür auch immer wir uns entscheiden: möge es eine freie Entscheidung sein und möge es aus der Liebe kommen. What if we just start with a song?
Positive Gruppenenergie der Woche:
Vorschlag: alle, die mögen, widmen am Sonntag, den 17. Mai, morgens um 10 Uhr, zwanzig Minuten dem gute_Energie_Verbreiten. Jede*r von Euch am Ort Eurer Wahl – und doch alle gemeinsam. Ihr könnt Euch in Eure liebste Meditation versenken, ein Ritual performen, ein paar Sonnengrüsse üben oder mit dem Hundetier an der Seite und der Teetasse in der Hand in der Wiese sitzen und „blöd schaugn“. Ob in Prag oder in Heiligenberg, Darmstadt oder Bruckfelden: lasst uns das Leben feiern, in aller Stille.
Musikalisches Gemeinschaftserlebnis der Woche:
playing for change – und noch mehr playing for change. Dank an Ute.
Buch der Woche:
Eine andere Welt ist möglich – Aufforderung zum zivilen Ungehorsam von Vandana Shiva.
7. Mai 2020
We are the world – eine Yogaschnecke denkt über VERBUNDENHEIT nach.
Morgen ist der 8. Mai und damit mal wieder Gelegenheit, wie konntet Ihr nur? zu sagen. Was bei einer solchen Anklage allerdings immer offen bleibt, ist die Frage: was hätte ich getan? Was hätte ich gesehen? Und vor allem: was sehe und tue ich heute? Das Wissen um alles Leid der Welt ist in dieser Zeit so leicht zugänglich wie nie zuvor – selten mehr als eine Suchanfrage entfernt, bleibt es dennoch viel zu oft ohne wirkliche Resonanz. Also, how dare we? Was fehlt, ist möglicherweise und immer wieder das Gefühl von Verbundenheit. Auch virtuelle Aufbereitung kann aus realen Situationen Themen machen und aus Themen etwas Theoretisches, das keinen Bezug mehr hat zum eigenen Leben. Gerade noch aushaltbar werden Existenzen in kleine Einheiten verpackt, auf dass uns die schiere Größe all dessen, was wir nicht halten, heilen oder lösen können, nicht erschlägt. Wo der Abgrund des Berührtwerdens lauert, lockt Eskapismus als Selbstschutz: lieber ablenken als verzweifeln. Denn es gibt ja kein richtiges Leben im Falschen, wie Adorno so weise feststellte – und von heute auf Morgen wird keine von uns eigenhändig Kapitalismus, Hunger und die Zerstörung der Ökosysteme abschaffen.
Was wir allerdings können ist, die Perspektive zu wechseln. Zu verstehen, dass die Textur dessen, was das Leben auf dieser Erde ausmacht, aus unser aller Intentionen und Handlungen gewebt ist – und dass wir uns entscheiden können, nicht zu flüchten vor unserem gemeinsamen Menschsein. Das sind alles WIR. Die Menschen, die für die seltenen Erden in meinem Handy ihr Leben riskieren ebenso wie diejenigen, die unter mehr oder weniger fairen Bedingungen meine Kleidung nähen oder auch einfach nur auf der anderen Seite der Erde eine gute Zeit haben wollen. Und ich. Und du. Und die Birken, die Biber, die Bäche. Leben ist immer Verbundenheit – ob wir das nun realisieren oder nicht. Aber wann immer uns diese Realität bewusst wird, können wir bleiben, das Herz weitmachen und uns berühren lassen. Vielleicht auch um etwas weinen, ausatmen und überlegen, was gerade wir in gerade diesem Moment tun können. Weil die Einzelnen im Moment wirklicher Verbundenheit eigentlich nicht gegen die Interessen des WIR handeln.
Und zwar nicht aus der Sicht einer wie auch immer begründeten Moraltheorie, die aufzustellen ich mich nicht berufen fühle. Sondern als Plädoyer für ein wiederholtes Experimentieren mit kleinen Schritten. Wenn das Handy kaputtgeht, brauche ich wirklich ein neues, oder wäre gebraucht kaufen nicht ebenso wunderbar und zudem resourcenschonend? Können wir ein paar Bienen froh machen durch das, was wir mit einem Stück Erde so anfangen oder einer Unbekannten den Tag versüssen mit einem geteilten Augenblick? Manchmal sind es Dinge, die wir NICHT tun, Gewohnheiten, die wir verändern oder solidarische Ideen, die wir schon seit Langem in die Tat umsetzen wollten. Manchmal ist es auch einfach etwas Geld, was hilfreich sein kann. Verbundenheit ist mehr als Einfühlungsvermögen und Mitleiden. Verbundenheit ist auch der Wunsch, dass es allen Wesen gut gehen möge. In aller Freundlichkeit können wir eines der schwierigsten, mutigsten und heilsamsten Haltungen kultivieren, die es gibt: Mitgefühl.
Kleine Bewegungsmeditation der Woche:
* Finde eine entspannte Haltung im Stehen und schliesse die Augen, wenn das angenehm für Dich ist
* komm in der Betrachtung Deines Atems zur Ruhe, ohne Erwartung und ohne Wertung
* wenn Du soweit bist, hebe einatmend die Arme über den Kopf in ein V und verbinde Dich mit der Welt
* bring ausatmend die Hände vors Herz: Handflächen aufeinander, Daumen am Brustbein. Verbinde Dich mit dir
* öffne einatmend die Hände ins Lotusmudra:
hebe dabei sanft Dein Brustbein und spüre die Weite, die Dich mit allen und allem verbindet.
* atme aus und lass die Handflächen einander wieder berühren
* atme ein und richte Dich noch einmal freundlich und würdevoll auf
* atme aus und lass die Arme sinken
Wiederhole diese Folge so oft, wie es sich gut anfühlt.
Video der Woche:
Wenn Du Dir drei Minuten Zeit zum Eintauchen nehmen magst, könnte das sehr schön werden. Und ich finde, es ist erst der Anfang – vielleicht morpht ja bald eine*r von uns auch was Östliches, Südliches und Nördliches. Und so.
Buch der Woche:
Shikasta von Doris Lessing. Die Geschichte der Erde als space fiction – die Suche nach der (verlorenen) Verbundenheit, dem WIR immer im Blick. Eins meiner liebsten Bücher of all times
Ohrwurm der Woche, eigentlich die Essenz dessen, was ich heute sagen will:
Und JA! ich habe eine Affinität zur Popkultur und ausserdem meine Jugend in den 80ern gelassen.
Hört dem Text aber gern wirklich zu!
Und noch einer:
Freude lässt uns schöner glänzen..
30. April 2020
Sehnsucht nach der vertrauten Absurdität –
ein freundliches Zurückweisen des Normalitätsgedankens
Die Zeit vergeht, und noch immer ist unser tägliches Leben irritiert vom Nichtsowirklichverstehen, von Vorgaben und Theorien der einen oder anderen Art. Noch immer erscheint mir Ausatmen als eine gute Grundlage für eine grössere Klarheit in alldem, für ein Nachdenken zum Beispiel über die Illusion von Kontrolle, über Berührung, Ambivalenz, den Begriff der Freiheit (ihr wisst schon) – und fürs Handeln. Wohin uns das dann führt und was uns in den nächsten Wochen noch so alles erwartet, können wir nicht wissen. Der nahezu kollektive Wunsch allerdings nach möglichst bald wiederhergestellter Normalität – der ist mittlerweile nicht mehr zu überhören.
Ein verständlicher Wunsch? Auf jeden Fall. Einer, den wir wirklich erfüllt sehen wollen? Ich WEISS nicht.
Sicher kann eine Verlängerung des jetzigen Zustands ins Unendliche in niemandes Interesse sein – aber wollen wir nicht ein wenig ambitionierter wünschen? Den Moment der Irritation nutzen, um scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen?
Normalität auf unserem Planeten war schon seit Langem ein lebensgefährlicher Zustand. Gefährlich für viel zu viele Menschen, gefährlich für das Zusammenspiel allen Lebens. Wo das scheinbare Recht auf ungebremste Mobilität und Kommunikation, der hemmungslose Verbrauch von Ressourcen und die konsequente Unterordnung aller Interessen unter die Interessen des Marktes normal sind, kann Normalität kein Wunsch sein, der mir das Herz erwärmt. Der meine eigene Rolle in diesem Ganzen freundlich und hilfreich erscheinen lässt. Was also stattdessen? „In Deutschland ist ein Leben ohne Mango zumutbar“, zitiert die taz den Wachstumskritiker Niko Paech. Auch ohne Ingwer?, frage ich mich bang und bin schon mitten drin in einer Auseinandersetzung mit der eigenen Konsumverzichtsbereitschaft.
Aber will ich, wollen wir in diese Normalität denn allen Ernstes zurück? Zurück in eine Vertrautheit, in der es zwar immunstärkende subtropische Wurzelgewächse in europäischen Gemüseauslagen gibt – die aber nur mit einem gerüttelten Maß an Illusionen (oder für popkulturell Interessierte: der blauen Pille) als kuschlig empfunden werden kann? Und möchte ich dieses Gefühl meiner gut versorgten Vertrautheit abhängig machen von Umständen, Freiheiten und Besitztümern, die dem großen Ganzen letztendlich schaden? Nein, das will ich natürlich nicht.
Und deshalb atme ich als erstes einfach mal aus, das ist für mich immer der Anfang. Werde still und entspanne mich in die Weite, die so entsteht. Weite auch meine Perspektive, beobachte ohne Wertung und ohne Erwartung. Ruhe in dieser Weite, die mir vertraut geworden ist. Ruhe in der Vertrautheit, die uns allen immer zugänglich ist – ganz ohne Nebenwirkungen und verquere Normalität.
Von hier aus kann es leichter werden (und nicht nur für mich), sich wach und mutig in dieser Welt und ihrer Veränderbarkeit zu bewegen. Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, auch die eigenen. Allem Leben mit Sorgfalt und Interesse zu begegnen, mit Dankbarkeit und Mitgefühl.
Lasst uns Keimzellen werden für Veränderung, für Liebe, Großzügigkeit und den ganzen Rest – Gutes kann sich schliesslich auch vermehren! Besinnen wir uns auf das, was uns wichtig ist – und setzen wir uns überall dort, wo es uns möglich erscheint, für das ein, was wir für richtig halten. Unabhängig davon, was ein Virus sagt.
Videos der Woche:
Let the sunshine in
Sorry, ich konnte nicht anders…
Kleine Veränderungsvorschläge der Woche:
Verlasst den Amazonas und kauft regional, wo es geht. Dankt einem Baum fürs Atmen. Atmet.
Jannes Dankeschön der Woche:
geht an Conny für ihren Leserinnenbrief und die Bullerbü – Alternative zu 5G. Und an Ute.
23. April 2020
It don´t mean a thing if it ain´t got that swing –
eine kleine Improvisation über den Begriff der Freiheit
Als dieses Jahr noch keine Minute alt war und wir auf dem Parkett der Alten Fabrik zur Livemusik schwoften, hab ich die taufrischen Roaring Twenties aus tiefstem Herzen dem Tanzen gewidmet. Allem, was ich schon so lange liebe, zwischen Walzer und skanking, Ballhaus und Party – und aber sehr auch dem Lindy Hop, einem Swingtanz, der so aussehen und sich schon beim Mitwippen fröhlich anfühlen kann. Das war ein glücklicher Moment, in dem mir nochmal bewusst wurde, wie wichtig mir die bewegte Musik ist, mit allem, was sich darin lebendig anfühlt. Und mit allem, was darin Freiheit ist.
Als dann relativ bald vorbei war mit Unterricht, Swingparties, lang geplanten Workshops und selbst dem heimischen Gehopse mit der wohnungsfremden Tanzpartnerin, war das erstmal ein wenig wie gegen die Wand laufen – eine Variante eingeschränkter Freiheit, wie sie gerade überall erfahrbar ist. Arbeiten, Feiern, Umarmen: die Begrenzungen trafen viele von uns eher unvorbereitet. Denn wer wie ich in der BRD aufgewachsen ist und nie einen Krieg miterlebt hat, erfuhr äußere Einschränkungen der Freiheit bisher nur in sehr geringem Maß. Oder erst, wenn die eigene Freiheit mit grösseren Interessen in Konflikt geriet – ob im politisch/ wirtschaftlichen Zusammenhang oder in Bezug auf die internationale und ökologische Gemeinschaft. Der Begriff der Freiheit im Kapitalismus war ja schon immer ein problematischer, weil zum einen das ehrliche Verhandeln des wachstumsorientierten Rahmens nicht vorgesehen ist – und zum anderen, weil Freiheit ohne Gerechtigkeit, wie Jean Anouilh schreibt, immer Willkür sein muss. Das ethische Bewusstsein darüber, dass die Freiheit des Einzelnen da aufhört, wo das Recht des Anderen beginnt, ist in unserer vernetzten und globalisierten Welt leider nicht besonders hoch.
Was also meine ich, wenn ich über den derzeitigen Verlust einzelner Freiheiten nachdenke? Was verlieren wir? Was können wir verlieren? Natürlich ist es auch jetzt wichtig, aufmerksam zu bleiben für die Struktur dessen, was passiert. Fragen zu stellen, Autoritäten zu prüfen. Und doch und gleichzeitig kann für unseren Alltag – für das, was unser persönliches Hier und Jetzt ausmacht – eine andere Lesart des Freiheitsbegriffs sehr hilfreich sein. Eine Lesart, die uns von Opfern einer Einschränkung zu Handelnden werden lässt. Die erfasst, dass es unabhängig vom konkreten Umstand immer möglich ist, sich des eigenen Reagierens auf diesen Umstand bewusst zu werden. Auszuatmen, die Perspektive zu weiten und das angepasste Handeln aus freien Stücken zu wählen. In einem Beispiel, das so undramatisch daherkommt wie das meine, war die Antwort leicht. Weitertanzen! Herausfinden, was die Essenz dessen ist, was ich vorhatte – und es demgemäss verändern. So erlebten meine Roaring Twenties nach dem kurzen Tief dann auch ein sensationelles Comeback, völlig anders und irgendwie auch wieder gar nicht. Als der Swingjazz noch immer so froh machte, gab es längst schon die solo jazz – Schritte. Und längst den Weg ins weltweite Netz, wo die dann zum Beispiel so aussehen und darauf warten, auch von mir getanzt zu werden. Mit aller Liebe. Weil immernoch: bewegte Musik, mit allem, was sich darin lebendig anfühlt. Und mit allem, was darin Freiheit ist.
„(Man kann) dem Menschen (…) alles nehmen (…), nur nicht die letzte menschliche Freiheit,
sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen.“
Viktor Frankl
Tanzexperiment der Woche:
Such Dir ein bis drei Stücke Musik, die Du liebst (oder probier die da unten aus, die mir gerade Spass machen). Finde wirklich verschiedene Stile, zu denen Du Dich bewegen willst – ganz ohne Regeln, Können und Wissen und „so, als ob niemand zusieht“. In meiner Sammlung sind die Atmosphären zum Beispiel meditativ, lustig und irgendwie cool. Probier dann, wie sich der Tag anfühlt, wenn Du ihn tanzend beginnst. Tanz vorsichtig oder wild, tanz schlicht oder hochgradig Dirty Dancing_mässig.
Gehst Du morgens immer auf die Yogamatte, reicht vorher oder nachher vielleicht das Meditative. Vielleicht aber auch nicht **
Shastro (bansuri, live): sitting in zen
Brandi Carlile & Friends: Lovesick Blues
Beats Antique: Borino
Tanzen lernen der Woche:
Jetzt gerade findest Du natürlich alles, was Du schon immer lernen wolltest, auf youtube. Geh in die Vollen, mach Dein Wohnzimmer zum Trainingsraum! Wenn wir dann alle wieder in die analogen Kurse „mit Anfassen“ dürfen und Du nicht eh schon Tango Argentino tanzt, versuchs doch mal mit Lindy Hop in Überlingen oder auch mit Walzer, Chacha & co in Meersburg.
Lesevorschlag der Woche:
Spektrum der Wissenschaft KOMPAKT: Tanzen. Gesunde Bewegung im Takt.
Und noch ein Zitat:
Frei zu sein bedeutet nicht nur, seine eigenen Fesseln zu lösen, sondern ein Leben zu führen,
das auch die Freiheit anderer respektiert und fördert. Nelson Mandela
16. April 2020
Ambiguitätstoleranz ist ein klasse Wort –
Nachdenken über Atmen und Handeln in einer komplexen Welt
Da versuchen Menschen zu überleben – über Ostern waren es zum Beispiel wieder hunderte, die in Seenot auf dem Mittelmeer trieben. Hat das etwas mit uns zu tun? Natürlich. Wir leben in einer Welt, die nicht zuletzt aus Entscheidungen geformt ist – wirtschaftlich, ökologisch, politisch, sozial und ethisch – und alles, was passiert, passiert immer auch im Kontext dieser Entscheidungen. Das gilt sowohl in Zeiten, die wir für normal halten, als auch jetzt. Die Zusammenhänge sind nicht immer leicht nachzuvollziehen und schon gar nicht leicht zu ertragen – dazu kommt die Unklarheit, ob und wie diese Welt noch zu retten ist und was ICH zu ihrer Rettung beitragen könnte. Große Fragen. Und ob es nun um die über Jahrhunderte gewachsenen Strukturen auf diesem Planeten geht oder um Atemmasken, Virologen und Krankenhausbetten – es gibt immer eine Menge Antworten. Eine Menge richtig und falsch. So viele Meinungen, manchmal wird mir ganz schwindlig davon.
Und ich weiss auch wirklich nicht, ob es nicht hin und wieder ganz gut wäre, zunächst noch keine Antwort zu haben. Erstmal auszuatmen im Nichtwissen oder wenigstens zu akzeptieren, dass die Antwort wahrscheinlich 42 ist. Die Uneindeutigkeit zu umarmen, den Widersprüchen und Mehrdeutigkeiten zu lauschen und der Verlockung der EINEN schlüssigen Interpretation oder Handlungsanweisung zu widerstehen. Ausatmen, natürlich.
In der Weite und der Stille, die im Loslassen der Meinung spürbar werden kann, liegt dann möglicherweise tatsächlich ein Potential für Weltenrettung. Potential für ein wirkliches Verstehen und Erleben der komplexen Bahnen, über die wir mit allem Lebendigen verbunden sind. Über die jeder Schmetterlingsflügelschlag und jedes menschliche Tun das große Ganze beeinflusst. Vielleicht geht es (und ich weiß, ich wiederhole mich) immer um diese Stille. Und um das, was passiert, wenn wir aus ihr heraus auf das reagieren, was ist. Jeden Tag aufs Neue kleine oder grössere Wege finden, die Welt ein ganz klein wenig besser zu machen. In aller Einfachheit und allem Mut, mit Kreativität und aus einem Gefühl der Verbundenheit heraus.
In manchen Momenten erscheint mir die ausatmende Toleranz der Ambiguität sogar der einziger Weg, handlungsfähig zu bleiben. Mein eigenes Selbstbild mit der Tatsache zu konsolidieren, dass ich nicht längst bei SeaWatch im Mittelmeer angeheuert habe, ist nur eine von unzähligen Herausforderungen in einer Welt der ungerecht verteilten Privilegien. Und doch und gerade deshalb möchte ich weiterhin still werden und vetrauen, dass aus der inneren Weite authentisches Handeln entstehen kann. Auf daß es eine kollektive Alternative geben möge zum Wegsehen oder der Überforderung. Laßt uns Superheld*innen der Tat werden – nicht aus schlechtem Gewissen, sondern aus Liebe.
„…you don´t have to solve it all, be the great saviour. All you need to do is listen and watch and do one thing you think is helpful. ..do one thing and maybe tomorrow there´s a next thing. We have all the intelligence we need to act out of integrity.“
Jon Kabat Zinn
Die Dankeschöns der Woche:
gehen an Ka Schmitz für ihre erhellende Idee und an Justin Time für das Osterei.
Und noch ein Zitat:
„… ich möchte Sie (…) bitten (…), Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben sie ja dann, eines fernen Tages, in die Antwort hinein.“
Rainer Maria Rilke (Briefe an einen jungen Dichter)
9. April 2020
Kontaktverbot – eine Masseurin denkt über Berührung nach.
Wenn Sprache Realität schafft, ist der behutsame Umgang mit Worten eine prima Sache.
Und wenn es sich so anfühlt, als würde Realität gleichsam über meinen Kopf hinweg festgelegt, ist es wieder mal höchste Zeit, die Perspektive zu wechseln. Aufmerksam zu werden, in diesem Fall, für den begrenzenden Blick auf Kontakt, auf Berühren und berührt werden. JA!, möchte ich dann von den Balkonen rufen: bleibt in Kontakt, auch über die Distanz, lasst Euch berühren und berührt andere. Findet immer wieder aufs Neue heraus, was Verbindung für Euch bedeutet.
Und NEIN, natürlich ignoriere ich dabei nicht die Wichtigkeit physischer Berührung in unserem Leben. Ich wäre eine seltsame Masseurin, wüsste ich nicht um deren Kraft, ihren Einfluss auf eigentlich alles, von der Seele bis zum Immunsystem. Deshalb würde ich Euch auf dieser Ebene auch gerade alles empfehlen, was sich gut anfühlt. Mit den Händen in der Erde, dem Gesicht im Wind, dem Baum im Arm den Moment geniessen – oder mal ganz bewusst und experimentell alles, was Ihr anfasst, mit Freundlichkeit und Achtung berühren. Ein haptisches Feuerwerkt wartet. Wenn Ihr zudem noch eine Katze, einen Hund oder sogar die Lieben bei Euch zu wohnen habt: umso besser. Fühlt Euch beschenkt.
Wichtig ist das Anfassen, ja. Und doch und gleichzeitig und darüber hinaus..
eröffnet sich in Bezug auf Berührung noch ein viel weiteres Feld, wenn ich sie als Nähe zum Leben begreife. Als die Fähigkeit, in Beziehung zu gehen mit allem, was ist und allen, die sind. Wenn wir still werden, können wir mit den Wolken atmen, uns mit den Grashalmen verbinden und Geist und Körper – welch Wunder! – zur selben Zeit am selben Ort sein lassen. Das ist Kontakt, mit all seinen Untertönen von Geheimnis und Schönheit. Und ob uns das jetzt zum Weinen bringt oder zum Lachen, es ist ein fabelhaftes Muster für den Kontakt untereinander. Ob wir nun das Waldbaden mit anderen teilen oder uns Zeit für wirkliches Zuhören und echte Aufmerksamkeit nehmen – Berührung ist möglich. Und genau wie zu jedem anderen Zeitpunkt unserer Biographie können wir entscheiden, ob wir sie stattfinden lassen und wie wir sie gestalten. Bleibt grosszügig, so oder so oder anders, lächelt Unbekannten zu, seid nett zu den Blumen, weitet Euren Blick für die Welt und scheut in der Freundschaft auch nicht die ganz große Geste.
Es wäre einen Versuch wert, Berührung und Kontakt überall da zu feiern, wo sich gerade die Gelegenheit bietet. Freigiebig und nicht auf die eigene Bezugsgruppe, die eigene Generation oder das eigene Land beschränkt. Richtet Euren Blick auf Zusammengehörigkeit und lasst Euch nicht von geschlossene Grenzen beeindrucken. Seid Gemeinschaft, mit den Nächsten, den Bekannten, den Supermarktbegegnungen und all denen, mit denen wir uns eine Erde teilen.
Meditationsvorschlag der Woche: Einstieg ins Innehalten.
Wenn Ihr Lust habt auf mehr, nehmt gern Kontakt auf mit mir oder schaut erstmal hier.
Ayurvedischer Vorschlag der Woche:
Ein sehr angenehmer Teil der klassischen Dinacharya – Morgenroutine ist die Selbstmassage. Wenn Ihr mit ihr vertraut seid, vergesst sie nicht. Wenn (noch) nicht, ist ein liebevolles und entspanntes Einmassieren Eures tollsten Körperöls im warmen Raum eine grossartige Alternative.
Buchvorschlag der Woche:
How to train a wild elephant and other adventures in mindfulness (deutsch: Achtsam durch den Tag) von Jan Chozen Bays.
Wenn jetzt die Zeit ist, mit einer niedrigschwelligen, humorvollen Achtsamkeitspraxis zu beginnen, dann ist dies das Buch dazu. Wenn Ihr ausserdem noch einen lokalen Buchladen unterstützen wollt, tut das, zum Beispiel hier!
2. April 2020
„…und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“ –
ein kleines Sinnieren über die Illusion, alles unter Kontrolle zu haben.
Auch die unter uns, die noch nicht auf der Flucht oder auf der Strasse gelebt haben, die noch nicht von Krieg oder alles infragestellender Krise betroffen waren, kennen diese Momente, in denen etwas zu entgleiten scheint. In denen Gesundheit, Versorgtsein oder die freie Wahl der Umstände sich nicht so einstellen, wie wir es gerne hätten. Diese Momente sind innerhalb einer vergleichsweise behüteten und vom Kapitalismus geprägten Biographie fast schon ein Glücksfall, denn sie ermöglichen ein kurzes oder auch nachhaltiges Auftauchen aus dem Irrtum, das Leben und seine Phänomene seien kontrollierbar. Sie sind es nicht – und ein Leben in Fülle wird sich uns in dem Maße erschliessen, wie wir es SEIN lassen können. Sein lassen, wie der Buddha zitiert wird, in all seinen Ausprägungen:
„Praise and blame, gain and loss, pleasure and sorrow come and go like the wind.
To be happy, rest like a giant tree in the midst of them all.“
Dieser Tage ist die scheinbare Kontrolle und ihr Verlust ein kollektives Akutthema – wenn es uns Menschen auch an so vollkommen unterschiedlichen Punkten trifft wie alles andere. Was auch immer wir (die wir nicht im Flüchtlingscamp festsitzen) uns für diesen Frühling vorgenommen hatten – es ist wahrscheinlich anders gekommen. Und es war nicht unsere Entscheidung. Es schränkt uns ein. Und wir verstehen es vor allem nicht wirklich. Unabhängig von der Frage, was hier eigentlich gerade vor sich geht und auch unabhängig davon, an welchem Punkt des interpretatorischen Kontinuums wir uns dazu verorten mögen: es ist höchste Zeit, auszuatmen! Es ist höchste Zeit, Yoga zu üben, zu tanzen und mit den Bäumen zu ruhen inmitten der Irritation.
Vielleicht ist es ja gerade eine gute Idee, das Bedürfnis nach Kontrolle zum Inhalt von Meditation zu machen. Vielleicht lässt sich in Stille und Sammlung die Spannung erahnen, die aus dem Festhalten entsteht. Und vielleicht können wir diese Spannung ja für einen Moment loslassen, können die Perspektive weiten und das Leben in all seiner Komplexität durch uns durch fliessen lassen. Vielleicht kann dann aus der Stille des Augenblicks auch wieder die Intuition auftauchen, die uns im Dschungel der sich überschlagenden Informationen und Deutungen gerade oft verlorenzugehen droht. Eine Intuition, die uns Entscheidungen treffen lässt, wo sie nötig sind, die uns Gelassenheit gibt, wo es nichts zu entscheiden gibt – und die den Blick über unser eigenes Wohl hinaus weitet für das grosse Ganze, für die Gemeinschaft aller Lebewesen.
Meditationsvorschlag der Woche:
* Finde einen würdevollen und freundlich Sitz, bequem und aufrecht
* komm in der Betrachtung Deines Atems zur Ruhe, ohne Erwartung und ohne Wertung
* erlaube den kleinen und grossen Muskeln Deines Körpers, loszulassen – vom Scheitel bis zur Sohle
* lass ein Gefühl von Weichheit und Weite zu
* weite visualisierend Deine Fußsohlen, Handflächen und den Brustraum (die 5 Herzen des Ayurveda)
* und gib Dich mit einem vertrauensvollen inneren Lächeln dem Augenblick hin
* erscheinen Bilder, Gedanken, Erwartungen oder Wertungen, winke ihnen freundlich zu und verabschiede sie
* freu dich an ihrem Kommen und Gehen
* freu Dich am Kommen und Gehen der Sinneseindrücke und ruhe darin – wie ein Baum.
Ayurvedischer Vorschlag der Woche:
Beginne den Tag mit einem kleinen Ritual, das Dir Freude macht und Gelassenheit fördert.
Lass das Trinken warmen (und gern leicht zitronigen) Wassers ein Teil dieses Rituals sein, eine Kerze für den Beginn und das Ende, ein wenig Bewegung, ein wenig bewusstes Atmen, etwas Inspirierendes. Hol Dir Anregungen von überall, wo es Dir fruchtbar erscheint.
Buchvorschlag der Woche:
The book of joy (Das Buch der Freude). Eine Kooperation des Dalai Lama und Desmond Tutu mit Douglas Abrams.
Video der Woche (ich werde nicht müde, es zu zeigen):
Gaur Gopal Prabhu